Ausrede Krebs?

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Summertime
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Ausrede Krebs?

Beitragvon Summertime » 16.11.2011 12:13

Hallo ihr Lieben,

meine Chemotherapie ist nun seit ein paar Tagen beendet. Eigentlich sollte ich Bäume ausreisen und Freudentänze veranstalten... Dem ist nicht so.

Mich beschäftigen plötzlich Dinge, über die ich noch nie so wirklich nachgedacht habe. Ich war zwar schon immer ein nachdenklicher Mensch, habe jegliche Sachen hinterfragt, aber solche Selbstzweifel wie jetzt hatte ich noch nie. Und was mich daran am meisten Belastet ist die Frage, sind das alles normale Selbstzweifel und Gedanken, die eine Chemo mit sich bringen (man liest ja des öfteren, dass sich Menschen durch eine Chemo verändern) oder ist es meine neue "Ausrede" für alles, was auch schon vor der Chemo dagewesen ist?

Da verstricken sich wieder Gedanken in Gedanken in Gedanken. Kennt ihr das, wenn man in einem Traum, träumt aufzuwachen obwohl man noch träumt... Der eine Gedanke ist noch nicht fertig gedacht schon kommt der nächste.

Zurück zum Thema:

Nach der Diagnose hatte ich ein Ziel: Gesund werden um jeden preis, den alten Charakter beizubehalten, sich nicht zu verändern, stark sein -für sich selbst und für andere, sich nicht unterkriegen lassen, keine Trauer, kein Selbstmitleid, kein Mitleid von Anderen zulassen, den Krebs um keinen Preis das Leben bestimmen lassen, normal sein in jeder Situation, sich nichts eingestehen, Schmerzen nicht wahrnehmen um Dinge zu machen -die einen "normal" sein lassen, die innere Stimme (Psyche) quasie überspielen.

Ich habe vor der Therapie und während der Therapie immer wieder gesagt, dass ich nicht schwach sein will, dass ich die Alte bleiben werde, komme was wolle, ich werde nicht auf der Couch vergammeln, ich werde aktiv sein, wollte sogar arbeiten gehen.... am Anfang...und jetzt? Was ist jetzt aus den Vorsätzen geworden?
-Oder war ich von Anfang an etwa schon kein starker Mensch und wollte mit der Therapie "mein Leben endlich mal verändern" quasi nicht die "Alte bleiben" sondern jemand "Starkes" werden?-

Ich habe versucht eine Rolle zu spielen, die Rolle der Gesunden. In den ersten Wochen hat sich mein gesamter Körper und die Psyche auch noch gut "verarschen" lassen, er hat die Rolle geglaubt und hat mitgespielt.

Die ersten zwei Zyklen hatte ich kaum Nebenwirkungen. Die letzten zwei Zyklen wurden dann von Mal zu Mal körperlich schlimmer. (Übelkeit, Müdigkeit lag fast nur noch im Bett). und jetzt nach der Therapie geht es mir körperlich gut, aber die Psyche fängt an.

Die ganzen zurückgestellten Emotionen, Ängste, Eindrücke.... kommen solangsam ans Licht. Die Therapie über habe ich sämtliche Probleme ausgeblendet, vorallem die alltäglichen Probleme (Beziehung, Beruf etc.).


Mir ist klar, dass die Psyche und die körperliche Fitness unter einer Chemo leiden, aber was ist wirklich von der Chemo und was schiebe ich einfach nur auf die Chemo?

Ich bin tierisch reizbar, gehe wegen der kleinsten Mücke an die Decke und verletze die Menschen damit, die ich doch eigentlich am meisten Liebe. Andererseits war ich auch schon früher temperamentvoller als andere.

Ich habe das Gefühl, dass ich nichts mehr wirklich zuende bringe, bin an manchen Tagen für alles zu faul, zweifle an mir selbst etc.

Ich zwinge mich jeden Tag zumindest etwas kleines zu "schaffen" sei es putzen, ein kleiner Spaziergang, Wäsche waschen... wenigstens irgendetwas selbst zu bestimmen. Aber diese Dinge sind mir einfach ZU klein.
-Was ist das schon! Diese kleinen Dinge habe ich früher nebenher erledigt, nach dem ich den ganzen Tag arbeiten war. Am Wochenende war ich dann sogar noch Party machen ohne müde zu werden.-

Und jetzt? Jetzt sind mir drei Treppenstufen zu viel, an einem Stück die Wohnung putzen ist ein Marathon, manche (schon vorher ungeliebten) Aufgaben bleiben komplett liegen...

-Erwarte ich zu viel von mir?-Ich wollte schon immer von 0 auf 100 in 2 Sekunden, hatte noch nie Geduld und wenn ich etwas will, dann SOFORT.

-Allerdings war ich auch schon immer einfallsreich wenn es um Ausreden ging und hab mich damit um alles Mögliche gekonnt gedrückt: Bin ich schon immer so ein furchtbar fauler, unmotivierter, unkonzentrierter, unstrebsamer, schnell reizbarer Mensch -und meine willkommene "Ausrede" ist dieses Mal einfach die Krankheit?

Die plötzlich auftretenden Emotionen und Gedanken über die Chemo, sowie das Auseinanderhalten zwischen chemobedingtem Leistungsabfall und "schon immer dagewesener" Ziellosigkeit machen mich fertig.

Vielleicht wird mir auch einfach bewusst, dass ich den Krebs als Chance nutzen soll, dass zu ändern, was ich in meinem Leben (bewusst und unbewusst) schon immer falsch gemacht/gehasst habe.

Es ist ein einziges Chaos in meinem Kopf, aber was davon spiele ich mir vor und was ist chemobedingt und geht "von alleine" wieder weg?

Ich bin nun seit 4 ewigen Monaten Zuhause, habe mir (siehe oben) versucht in den A*** zu treten, aber irgendwie doch nichts erreicht. 4 Monate nicht arbeiten - ich hätte mir ein Instrument erlernen können, mein Englisch auffrischen können, arbeiten erledigen können, die man immer so vor sich hingeschoben hat und und und. und was mache ich? Ich mache ein bisschen Haushalt...

Jetzt bin ich fertig mit der Chemo und kriege meinen Hintern noch immer nicht hoch. Was ist noch normal und was ist einfach nur Faulheit? Ich fühle mich mittlerweile wie ein "Schmarotzer" kriege Geld von der Krankenkasse fürs nix tun :( Innerlich will ich Berge versetzen, aber irgendwas bremst mich aus.

LG

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DerAndi
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Beitragvon DerAndi » 16.11.2011 12:22

hallo?

du hast eine tödliche krankheit hinter dir, eine behandlung, die deinen körper komplett auf den kopf gestellt hat und die (ohne begleitmedikamente) dich vielleicht sogar auch gekillt hätte.
dein leben ist nicht mehr wie vorher und was sind da bitte vier monate?

lass dir zeit. ich hab selbst jetzt nach nem knappen jahr noch tage, an denen es nicht geht. ist halt so..was solls. hauptsache das leben geht weiter.

geh in reha..mach noch ein paar monate krank, geh auf reisen, mach sport und erhole dich körperliche und mental. letzteres wird ein job über jahre sein, wenn du es ernshaft angehen willst.

setz dich nicht unter druck..das is das schlimnmste was du nun machen kannst..

Sonja
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Beitragvon Sonja » 16.11.2011 12:29

Hallo Summertime,

es ist immer sehr schwierig als Aussenstehnder zu helfen - aber machmal tut es einfach nur gut, das jemand zu hört und da bist du hier an der richtigen Stelle.

Deine Krankheit hat dein ganzes bisheriges Leben auf den Kopf gestellt und da ist es doch total normal das du unsicher bist.
Ich denke du setzt dich da zu sehr unter Druck, überlege mal was dein Körper alles aushalten musste, dass kann doch nicht von 0 auf 100 sofort wieder funktionieren.
Warst du denn schon auf Reha???? Ich denke das wäre das Richtige für dich, dort sind Profis am Werk, die für dich da sind und dir helfen können.

Wie gesagt ich bin nur Aussenstehende, aber hab immer ein offenes Ohr für dich.

Kopf hoch, du bist jetzt so weit gekommen, da schaffst du den Rest auch noch :D

Lass dich mal tröstend umarmen
:troest:

LG Sonja
Sohn 20 Jahre alt
MH-Diagnose IIIb mit Milzbefall am 07.09.2011
Teilnahme an der HD 18-Studie
Port - OP 15.09.2011
1. Zyklus 19.09.2011
2. Zyklus 10.10.2011
PET-CT 26.10.2011 - negativ -
3. Zyklus 31.10. 2011
4. Zyklus 21.11.2011
12.12.2011 --> ALLES schick:O)))
23.04.2012 --> Super:O)))
15.06.2012 --> ALLES BESTENS:O))

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Katja79
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Beitragvon Katja79 » 16.11.2011 13:07

Hallo Summertime,

der Krebs ist keine Ausrede, er ist Fakt! Klar, sollte man nicht alles darauf schieben, aber hey, ich mach mir manchmal sogar n Spaß draus, wenn ich das Gefühl habe, mein Körper oder meine Psyche spielt verrückt. Dann kann ich immer sagen: ach ja, die Chemo ist bestimmt Schuld 8) .

Aber im Ernst, Deine Gedanken kommen mir recht bekannt vor und auch ich schwanke ständig zwischen "mich zur Akzeptanz zwingen" und "Loslassen von den Gedanken an das letzte Jahr".

Es wird immer ein hin und her geben und wie DerAndi schon geschrieben hat: die mentale Verarbeitung wird wahrscheinlich eine Lebensaufgabe sein.

Für Dich aber ist im Moment das Allerwichtigste: Erholung! Das heißt, setz Dich nicht selbst unter Druck und erwarte vor allem nicht, dass Du die Zeit jetzt "sinnvoll" nutzen musst. Das sinnvollste für Dich ist, zu verarbeiten! Und zu tun, was Dir gut tut. Was geht, geht, und was nicht geht, geht eben nicht. Klar, sich ab und zu mal am Kragen packen und sich aufraffen sollte nicht fehlen. Selbstmitleid hilft auf Dauer nicht.
Aber vergiss nicht, was Du gerade durchgemacht hast! Es war nicht eben eine schwerere Erkältung! Dein Körper und Deine Seele haben das Recht, verwirrt zu sein und auch mal gar nicht klarzukommen.

Ich bin selbst auch immer noch dabei, zu akzeptieren, dass meine Uhr jetzt eben langsamer tickt und ich bin ganz überrascht, wenn ich mal tatsächlich bis nachts um 2:30 noch aktiv bin (einer der gaaanz seltenen Momente). Das ist nicht immer leicht, weil ich auch schon in der Reha mitgekriegt habe, dass andere die Therapie beinahe easy weggesteckt haben. Aber so ist das nunmal. Bei jedem läuft's anders, wir müssen jeder für sich damit umgehen.

Ich denke auch: mach eine Reha, das wird Dir guttun. Und vergiss nicht, jetzt hast Du offiziell die Zeit der puren Erholung. Der Arbeitsstress wird noch früh genug losgehen. :wink2: Genieße das Leben, das hättest Du nämlich ohne Therapie bald verlieren können!

Viele Grüße,
Katja
Diagnose: 03.05.2010

MH Stadium 2A/ 2 Zyklen ABVD, Bestrahlung 20Gy/ Teilnahme an Studie HD 16, Arm A (Standardtherapie)

----------------
- Chemo vom 26.05.-07.07.2010
- Bestrahlung vom 18.-31.08.2010,
insg. 10 Mal (20Gy)
- Bestätigung Remission: 11.10.2010! FERTIG!
- Reha in der JER Bad Oexen: 21.10.-18.11.10

13.NU: 11.05.2015. Alles gut!!!
_____________________
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soul-touch
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Beitragvon soul-touch » 16.11.2011 15:54

Was spricht denn dagegen, dass du faul bist, wenn du keine Lust hast was zu tun? Stellst du die Ansprüche an dich, weil es die Ansprüche und Erwartungen anderer sind?
Du hast mit dem Sensemann gepokert...und darum spielst du in dem Fall die Hauptrolle. Nur, was du willst, kannst, möchtest...das zählt. Und wenn du Krebs als "Ausrede" (hahaha) benutzt, wie du es nennst - NAUND? Dann tu es doch! Es ist dein Leben und du bist das Wichtigste an was du denken musst!

Alles was du geschrieben hast steht dir zu! Basta!

Die Veränderungen kommen von ganz allein, die kannst du nicht erzwingen. Denn dann sind es nicht die Richtigen :wink2:

LG Diana
10.10.2011 Diagnose: T-Hodgkin Lymphom Stad. IA/IIA(?) Befall re Axilla
Therapie: 6xCHOP
CT 23.3.2012--->sauber
PET-CT 26.3.2012 NIX LEUCHTET!! !--->komplette metabolische Remission
doch noch Bestrahlung nach Prothesenexplantation und Kapsolusektomie am 10.5.2012-Infaltration mit Lymphomzellen nachgewiesen, 36 Gray ab 25.6.2012
Diagnose geändert: implantatassoziiertes ALCL
10/2012 1. NU alles schicki!!!
3/13 2.NU--->weiterhin alles schick :-D
9/13 3.NU--->immernoch gesund!!!!!
10/2016 immernoch gesund :daumen:

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DerAndi
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Beitragvon DerAndi » 16.11.2011 17:03

soul-touch hat geschrieben:Was spricht denn dagegen, dass du faul bist, wenn du keine Lust hast was zu tun? Stellst du die Ansprüche an dich, weil es die Ansprüche und Erwartungen anderer sind?
Du hast mit dem Sensemann gepokert...und darum spielst du in dem Fall die Hauptrolle. Nur, was du willst, kannst, möchtest...das zählt. Und wenn du Krebs als "Ausrede" (hahaha) benutzt, wie du es nennst - NAUND? Dann tu es doch! Es ist dein Leben und du bist das Wichtigste an was du denken musst!

Alles was du geschrieben hast steht dir zu! Basta!

Die Veränderungen kommen von ganz allein, die kannst du nicht erzwingen. Denn dann sind es nicht die Richtigen :wink2:

LG Diana



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Hans08
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Beitragvon Hans08 » 16.11.2011 21:40

@soul: super toller Beitrag. Du bringst es echt gigantisch gut auf den Punkt. Kann mich Andi nur anschließen... Gefällt mir sehr gut ;-)

VG
Morbus Hodgkin IVB- März 07-Juli 07 8x Beacopp-14
http://forum.hodgkin-info.de/viewtopic.php?t=3100

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schildkröte78
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Beitragvon schildkröte78 » 17.11.2011 06:28

Hallo Summertime!
Ich versteh dich voll und ganz. Ich meinte auch jetzt wo der Tumor weg ist, bin ich wieder gesund und kam gar nicht klar damit immer noch so lahm und manchmal lustlos zu sein, hab sogar versucht Vollzeit zu arbeiten. :(
Ich wollte dann einfach verstehen, ob es die Psyche oder der Körper ist. Ob ich mich vielleicht wirklich nur da hereinsteigere, weil mich der berufliche Stress nervt. Also bin ich zu einer Psychologin gegangen und die hat mir erstmal verklickert, dass ich nicht gesund bin, noch lange nicht und jetzt nur Sachen tun, die mir selbst gut tun. Un-oh Wunder-seitdem geht's mir besser. Es gibt Tage, an denen ich zu träge bin, um abzuwaschen. Aber dann isses halt so. Jetzt frag ich mich, in dem Moment, was würde mir jetzt mehr Freude machen-ein Spaziergang, Shoppen, mit Freunden weggehen oder nur telefonieren, lesen...was auch immer! Der ganze Druck ist von mir abgefallen. Ich hoffe, dir gelingt das auch.
By the Way:Soultouch: Das erinnert mich an etwas was meine Kollegin mir sagte, als ich gerade die Diagnose bekam:Spiel ruhig ab und zu die Krebskarte aus, würde ich auch tun. Ich denke es ist uns manchmal auch gestattet, zu sagen:Ihr könnt mich mal!!!
Alles Gute Nicole
Morbus Hodgkin Stadium IIa
2 mal ABVD, Bestrahlungen 30 gy
Reha Sonneneck Dez.2011
1/2012 erste NU alles gut
4/2012 alles gut


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